So kam er ins Wallis, ins Berner Oberland, schliesslich auf die Alp Neaza in Graubünden, im Schams, mehr als tausend Meter über dem Hinterrhein und der San-Bernardino-Autobahn. Dort hat er die letzten sechs Sommer verbracht, mit rund vierzig Milchkühen und dreimal so vielen Rindern, Mutterkühen und Kälbern. Meist in einem Viererteam und ohne die traditionelle hierarchische Arbeitsteilung: Alle erhalten den gleichen Lohn, Neulinge bekommen nicht nur Handlangerjobs, sondern lernen auch käsen. Heute dominieren in den Käsereien Kunststoffe und Metall – anders als früher, als fast alle Geräte aus Holz waren. Zum Rühren diente damals oft ein entrindetes Tännli. Das ist heute verboten: Hygienevorschriften. Järbe – Käseformen – aus Holz sind hingegen noch erlaubt. Doch auch sie verschwinden allmählich – weil sie niemand mehr herstellt. Wirklich niemand? Chrigel fragte nach.
Eine Firma für Käsereibedarf gab ihm schliesslich die Adresse eines früheren Lieferanten aus Kerns, Kanton Obwalden. «Ich rief an und war ziemlich hartnäckig.» Und da steht er jetzt, in der Werkstatt, in der Fridolin Britschgi sein Leben verbracht hat. Ihn, einen der Letzten, die vom Järbmachen lebten, kann er nicht mehr fragen: Britschgi ist 1997 gestorben. Doch Fridolins Sohn Gerhard, heute Mitte fünfzig, musste als Kind seinem Vater oft helfen. Er hat Chrigel tagelang gezeigt, was er noch weiss. Jetzt arbeitet Chrigel alleine weiter, probiert aus, versucht die Wissens- und Erfahrungslücken zu schliessen. Beherbergt wird er von Marie Britschgi, Fridolins Witwe. «Ohne den Goodwill und die Unterstützung von Gerhard und Marie wäre ich mit dem Järbmachen nie soweit gekommen.»
Es ist Freitagnachmittag. Das Resultat der Arbeit der letzten Wochen
stapelt sich in der Werkstatt: an die 200 dünne Buchenholzbretter,
zwischen 40 und 180 Zentimeter lang. Chrigel hatsie mit der Bandsäge
zugeschnitten, gehobelt und geschliffen. An einem Ende ist das Holz
dick, als wäre dort ein Klötzchen aufgeleimt. Aber das sieht nur so aus:
Alles ist aus einem Stück. Chrigel bohrt zwei Löcher in den dickenTeil,
den sogenannten Grind. Durch die Löcher werden die Schnüre laufen, die
die Käseform fixieren. Aber noch ist das schindeldünne Brett, die
«Zunge», gerade und steif.
Hinter dem alten Haus stehen neue Einfamilienhäuser zwischen blühenden
Apfelbäumen. Kerns wächst nach allen Seiten, ist schon fast ein Quartier
von Sarnen geworden. Doch in der Werkstatt sieht es immer noch aus wie
zu Fridolin Britschgis Zeiten. An den Wänden hängen Feilen, Bohrer,
Zangen, Stricke und Schraubenschlüssel, von der Decke baumeln
Bandsägeblätter. Bandschleifmaschine, Hobelbank und Bandsäge stehen im
Raum. Auf einem Schrank hat der Familienvater die Geburtsdaten seiner
fünf Kinder notiert, die zwischen 1951 und 1962 geboren sind. Daneben
kleben Bildchen von Jesus und Maria. Auch der Zettel mit den Preisen
hängt noch da: Für ein vier Zentimeter hohes Minijärb verlangte
Britschgi nur gerade Fr. 9.50, das grösste, vierzehn Zen-timeter hoch,
kostete 70 Franken. Noch grösser waren die Emmentalerjärbe aus
dreieinhalb Meter langen Fichtenbrettern. Auch grosse, kunstvoll
geschnitzte Rahmkellen aus Ahornholz stellte er her. Dafür trug er ein
Kettenhemd, denn das Aushöhlen mit dem rotierenden Messerkopf ist
gefährlich. Es hängt immer noch an der Wand.
Als am Samstagmorgen die Schneefelder am Pilatus rot zu leuchten
beginnen, ist Chrigel schon lange auf. Am Vorabend hat er noch mehrere
Stunden gebraucht, um die Werkstatt zu putzen und vorzubereiten. Jetzt
steht er im Unterhemd in der Werkstatt und heizt den Holzofen, der für
den entscheidenden Schritt des Järbmachens nötig ist: das Biegen.
Gerhard Britschgi, der statt Järbmacher Berufsberater geworden ist,
kommt vor seiner samstäglichen Velotour vorbei und hilft bei der
Feineinstellung. Die Wassermenge muss stimmen, die Hitze, der Druck
dürfen nicht zu hoch sein. Chrigel stapelt zwei Dutzend Järbbretter ins
lange Ofenrohr, dann wird Dampf hineingeleitet. Fridolin Britschgis
selbst gebauter Dampfabzug speit dicke Wolken in den Garten hinaus,
trotzdem beschlagen sich in der Werkstatt die Fenster. Es riecht nach
Sauna, als Chrigel die ersten Hölzer aus dem Dampf holt. Jetzt sind sie
heiss und biegsam.
Nun kommt eine der seltsameren Maschinen der Werkstatt zum Einsatz: die «Chrimpfi». Ein Elektromotor überträgt via einen Transmissionsriemen und zwei Ketten die Energie auf zwei Walzen, die sich gegeneinander drehen. Chrigel lässt die «Zunge» zwischen die beiden Walzen laufen und drückt sie dabei gegen einen gebogenen Holzblock. Rasch nimmt das dünne Brett die Form eines Reifens an. Wenn genug gebogen ist, fixiert Chrigel das Järb mit einer Klammer. Nach dem Abkühlen bleibt es rund.
Wenn die Käsemasse in der Form gepresst wird, verliert sie noch stark an Volumen, weil Molke austritt. So wird ein Holzjärb im Verlauf der Käsetrocknung immer enger geschnürt. Am Schluss sind alle Käselaibe gleich dick, aber ihr Durchmesser ist verschieden. Wenn Plastikformen verwendet werden, ist es umgekehrt.
Chrigel erzählt von einem Bekannten, einem Schreiner, der alle Maschinen ausser der Bandsäge verkauft hat und wieder fast alles von Hand macht, weil es ihm so einfach besser gefällt. Aber auch von vollautomatisierten Talkäsereien. Wo die Harfe, die die Käsemasse schneidet, automatisch läuft und eine Pumpe die Käsemasse in die Formen verteilt. Da ist es auch nicht mehr nötig, wie auf der Alp Neaza die Arme tief ins Kessi zu tauchen und die Käsemasse im Tuch einzufangen und herauszuziehen.
Und es geht schneller. Aber der direkte Kontakt mit dem Material ist weg. «Die Arbeit ist entsinnlicht», sagt Chrigel. Dadurch wird sie das, was Arbeit für ihn früher überhaupt war: ein notwendiges Übel. Möglichst wenig arbei- ten, fand er damals. «Heute weiss ich, dass Arbeit auch guttun kann.» Solange er sie machen kann, wie er es für richtig hält.
Er weiss, dass das nicht selbstverständlich ist. Mit dem Alplohn und den Winterjobs – Renovationen, Holzen, Ferienvertretungen in einer Käserei – kann er leben, aber er lebt einfach. Es macht ihm nichts aus, Kleider im Brockenhaus zu kaufen. Für eine Familie würde es kaum reichen.
Im Alter könnte sich Chrigel vorstellen, Schindeln zu machen. Oder Böscheli, Holzbündel zum Heizen im Kacheloffen. Arbeiten, die als monoton, sogar stupid gelten: «Aber sie sind es nicht, denn das Material ist faszinierend. Jedes Holzstück ist anders.» Das Repetitive im Handwerk sei etwas ganz anderes als die Repetition in der Fabrik: «Am Fliessband kannst du nicht meditieren.»
Dieser Artikel erschien in der Wochenzeitung WoZ Nr. 20 vom 15. Mai 2008 www.woz.ch
Der Fotograf Yannick Andrea ist zu erreichen unter www.yannick-andrea.ch